Initiative für eine gerechte Geburtshilfe in Deutschland - Information, Austausch, Diskussion.
Initiative für eine gerechte Geburtshilfe in Deutschland - Information, Austausch, Diskussion.

Gewalt in der Geburtshilfe

Gewalt in der Geburtshilfe sind Handlungen, Vorgänge und/oder systemische sowie soziale Zusammenhänge, die sich während der Schwangerschaft, unter der Geburt oder im Wochenbett negativ beeinflussend, verändernd oder schädigend auf Frauen, gebärfähige Menschen (Transsexuelle) und ihre (ungeborenen) Kinder auswirken. Indirekt können auch Väter, Partner/innen, geburtshilfliches Personal oder Familienangehörige betroffen sein.

Ausgeübt wird diese Gewaltform durch medizinisches Personal oder andere in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett beteiligte Menschen, sie kann stark  strukturell (Personal-, Zeitmangel, Routine) bedingt sein. Unabhängig davon, ob die Gewalt wissentlich oder unabsichtlich passierte, geht sie immer mit der Missachtung der Rechte von Frauen (Schwangeren, Gebärenden, Müttern) und Kindern einher. Diese gilt es zu schützen. Darum forderte die Weltgesundheitsorganisation 2014 explizit für die Geburtshilfe:

 

„Die Prävention und Beseitigung von Respektlosigkeit und Misshandlung unter der Geburt. […] Jede Frau hat das Recht auf die bestmöglichsten Gesundheitsstandards, welche das Recht auf eine würde- und respektvolle Behandlung beinhalten.“

– WHO: The prevention and elimination of disrespect and abuse during facility-based childbirth. - 2014, S.1.[1]

2015 erschien die Erklärung auch auf Deutsch: Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen.

 

Gebärende haben, wie alle Menschen, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Recht beinhaltet sowohl das Recht auf Einverständniserklärung als auch auf Behandlungsverweigerung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das 2010 in seinem Urteil „Ternovszky gegen Ungarn“[2] bestätigt:

„Gebärende haben ein grundlegendes Menschenrecht, die Umstände, in denen sie ihr Kind zur Welt bringen, frei zu wählen.“

Das heißt, dass die Gebärende auch nach deutschem Patientenrechtegesetz die Entscheiderin über Untersuchungen, Eingriffe und Medikamentengabe während des Geburtsprozesses ist. Zwar können (müssen) Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und andere sie informieren, aufklären, beraten und unterstützen, aber die abschließende Entscheidung über das Vorgehen, ihren Körper, ihr Ungeborenes bleibt ihr überlassen.  Zudem müssen tatsächliche Alternativen vorhanden sein, zwischen denen die Gebärende wählen kann. Ohne Wahlmöglichkeit kann sonst keine Entscheidung fallen. Leider ist dies oft nicht der Fall. Eine Ausnahme bilden dringend medizinische Notfälle mit Gefährdung des Kindes nach Wehenbeginn, dann darf nach deutschem Recht gegen den mütterlichen Willen gehandelt werden (vgl. Notwehrparagraph § 32 StGB). Doch auch in diesem seltenen Fall bedarf es der Aufklärung.

 

Gewalt unter der Geburt

Viele Frauen erleben u. a. aufgrund von Personalmangel, fehlendem Respekt oder aus Routine Gewalt während der Geburt ihrer Kinder. Hier unterscheidet man zwischen physischer (körperlicher), psychischer und struktureller Gewalt - auch wenn sich diese Gewaltformen oft gegenseitig bedingen:

 

Physische Gewalt

  • Festhalten
  • Festschnallen der Beine
  • keine freie Wahl der Geburtsposition (z.B. in Rückenlage auf dem Gebärbett)
  • grobe Behandlung (z.B. Katheter unnötig schmerzhaft legen)
  • Medikamentengabe ohne oder mit unvollständiger Aufklärung (z.B. beim Off-Label-Use von Cytotec zur Geburtseinleitung)
  • medizinisch nicht indizierte Untersuchungen (z.B. wiederholt nach dem Muttermund zu tasten, wenn dies nicht gewollt/notwendig ist)
  • ohne Einverständnis und ohne medizinische Notwendigkeit einen Dammschnitt durchzuführen
  • ohne Einverständnis und ohne medizinische Notwendigkeit einen Kaiserschnitt zu machen
  • ohne Einverständnis und ohne medizinische Notwendigkeit sonstige medizinischen Interventionen (Medikamentengabe, Kristellern, Katheter legen) durchzuführen.
  • Schläge, Ohrfeigen, Kneifen
  • Zwang unter Wehen still zu liegen

Psychische Gewalt

  • Anschreien
  • Ausübung von verbaler Gewalt. Z.B. zu sagen: „Wenn sie jetzt nicht mitarbeiten, dann stirbt Ihr Baby!“ oder „Seien sie gefälligst still!“ oder "Guck dich mal an Mädchen, du bist fertig - du musst eine PDA nehmen."
  • Beschimpfen
  • Diskriminieren (Alter/Gewicht/Herkunft/u.a.)
  • Druck ausüben oder erpressen
  • Gebärende unter Geburt allein lassen (außer, wenn sie dies ausdrücklich will)
  • keine (echte) Wahlfreiheit bei medizinischen Interventionen lassen
  • Machtmissbrauch
  • Nötigung
  • Sexualisierte Gewalt in Form von Sprache, Witzen
  • Verbot zu essen/trinken, sich zu bewegen
  • Willkür
  • Zwang

 

Strukturelle Gewalt

  • fehlende Raumkapazitäten oder Personalmangel: geburtshilfliche Kliniken weisen Frauen selbst unter Wehen und mit Voranmeldung ab
  • Hebammenunterversorgung
    • Schwangere bleiben  ohne Betreuung  zur Vorsorge, zur Geburtsbegleitung (Bezugs-/ Beleghebamme) oder zur Nachsorge
    • Mütter mit ganz jungen Säuglingen finden keine Nachsorgehebamme zur Stillberatung (vgl. *MotherBaby/ *MutterBaby: In der Einheit von Mutter und Kind sind immer beide Seiten mitbetroffen)
    • Qualität der Geburtshilfe sinkt: Gebärenden werden im Kreißsaal allein gelassen, da die Hebamme sich um bis zu fünf andere Schwangere kümmern muss, die Geburt wird dahingehenden ‚programmiert‘ (vgl. physische Gewalt) – z.B. schmerzstillende PDA gelegt, damit die Frau ‚ruhig‘ ist
  • interne Standards: Leitlinien werden z.T. außer Acht gelassen
    Kreißsaalschließungen, fehlende wohnortnahe Versorgung
  • Haftpflichtproblematik, Hebammen geben ihre Arbeit auf und stehen nicht mehr für Geburtsbegleitung zur Verfügung
  • Hierarchien im Kreißsaal, Angst vor Regressforderungen, systemisch bedingt wird Druck ausgeübt
  • Ökonomisierung, DRG-System, interventionsfreie Geburtshilfe lohnt sich nicht

 

„Meist entscheiden jedoch vor allem die Umstände und die Art der Behandlung, wie und ob solche Eingriffe als Gewaltakte empfunden werden.“

Franke, Tara: Das Schöne wurde mir genommen - wie Gewalterfahrungen unter der Geburt [...] 2007/2008, S. 3.

Folgen

Die Folgen für die Mütter können stark variieren. Nach physischer Gewalt reichen sie von (Wundheilungs-)Schmerzen bis hin zu irreparablen Körperverletzungen z.B. nach gegen den Willen durchgeführte Operationen (Kaiserschnitt, Gebärmutterentfernung), auf psychischer Ebene reichen sie von kurzzeitiger Erschütterung bis hin zu schweren Depressionen, Traumatisierungen und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Auch kann die Beziehung zum Kind negativ beeinflusst werden. Ebenso leidet häufig die Partnerschaft.

„Zutiefst verängstigt und an körperlicher Bewegung gehindert, erstarren die Betroffenen oder haben sogar einen völligen physischen und psychischen Zusammenbruch. Je größer der intensive emotionale Stress, desto länger und intensiver erfolgt eine Lebensphase, in der die betroffenen Frauen von ihren ursprünglichen Körpererfahrungen und ihren eigenen Empfindungen wie abgeschnitten scheinen. Ihr Leben hat sich auf dramatische Weise verändert.“

Sahib, Tanja: Es ist vorbei – ich weiß es nur noch nicht. Bewältigung traumatischer Geburtserfahrungen. - BOD: o.O. 2013, S. 20.
 
Insgesamt sind die Langzeitfolgen wissenschaftlich erst wenig untersucht.
Fest steht aber, dass Frauen nach negativer Geburtserfahrung später und wenn, dann weniger Kinder bekommen. (Gottvall K., Waldenström U.: Does a traumatic birth experience have an impact on future reproduction? BJOG. 3/2002; 109(3): 254-60.)

Ursachen: Übermäßige Interventionen, Personalmangel

Bei der Betreuung von normalen Geburten werden medizinische Kontrollen zunehmend zur Routine, wie zum Beispiel die dauerhafte Überwachung mittels CTG (Herzton-/Wehenschreiber), die eigentlich für Komplikationssituationen gedacht ist. Von Experten wird dieses Vorgehen u.a. mit der Angst vor Regressionszahlungen und mit Personalabbau begründetet. Im Überwachungsraum kann eine Hebamme so mehrere schwangere Frauen unter der Geburt „betreuen“, z. T. im Schlüssel von 4:1. Dies kritisiert auch der Hebammenverband: Gebärende werden in den Kliniken zunehmend schlechter versorgt, es fehle an Personal und Zeit.[3] Dass eine Geburt nicht mehr gut betreut werden kann, bedeutet für die Gebärende, dass die Kommunikation fehlt, Aufklärung stark verkürzt ausfällt oder gar nicht stattfindet, dass sie vielleicht Routineprozessen ausgeliefert ist und an Entscheidungsprozessen nicht immer beteiligt ist (sei es aus Zeit- oder Personalmangel). Diese Situation ist eine ungünstige Voraussetzung für eine gewaltfrei erlebte Geburt.

 

Auch in der Empfehlung für traumasensible Begleitung durch Hebammen, herausgeben vom Deutschen Hebammenverband (DHV), hebt die Präsidentin Martina Klenk diesen Sachverhalt besonders hervor:

 

"In der Geburtshilfe hat die Interventionsrate in den normalen Verlauf erschreckende Ausmaße angenommen. Mütter und Kinder sehen sich mit einem System konfrontiert, das wirtschaftliche Ausrichtung und haftungsrechtliche Absicherung über Ihre Rechte nach Autonomie, Selbstbestimmung und körperlicher Unversehrtheit stellt. Auch das ist Gewalt, auch das führt zu unnötiger Traumatisierung. Es wird begünstigt durch Personaleinsparungen und finanzielles Aushungern empathischer Betreuung, die der Entstehung von (Re-)Traumatisierungen in Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit vorbeugt." (im Vorwort der Empfehlung, 2013)

 

Roses Revolution

Frauen, die Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett erlebt haben, können sich bei der Roses Revolution beteiligen und das Schweigen brechen. Damit dem Krankenhauspersonal eine Rückmeldung geben, in Kommunikation treten und vor allem ein Stück Trauerarbeit leisten. Auch ihre Partner*innen und ihre Familie können sie unterstützen.

 

Lösungen

Um eine würde- und respektvolle Betreuung zu ermöglichen, müssen die Forderungen der WHO konsequent von Politik und Gesundheitswesen umgesetzt werden. Eine wichtige Maßnahme wäre die verbindliche und flächendeckende Einführung der "10 Schritte zur optimalen MutterBaby-Geburtsservice" der IMBCI (Internationale MutterBaby-Geburtsinitiative). Weitere Lösungsmöglichkeiten: hier.

 

Linkliste: Hilfeangebote zur Verarbeitung nach traumatischen Erfahrungen in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sowie Literaturempfehlungen.

 

Weiterlesen bei gerechte Geburt - "Auch das ist Gewalt": Kaiserschnitt, Dammschnitt, Anwendungs- und Aufklärungsfehler bei Cytotec, Kristellern

 

Die offzielle WHO-Definition von Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe:

 

Empfehlungen für traumasensible Begleitung durch Hebammen DHV, Karlsruhe 2013.

 

Hier geht es zu (Fach-)Artikeln zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe

z.B. »… oder wollen sie, dass Ihr Kind stirbt?« Mascha Grieschat über Gewalt im Kontext von Geburtshilfe. (gbp.vdaeae, 3/2019, S.17-19)

 

Hier gibt es (Video-)Beispiele und die Möglichkeit zur Diskussion

 

Fachliteratur zum Thema, erschienen im Oktober 2015: "Gewalt unter der Geburt" von Christina Mundlos (Tectum-Verlag).

 

 

 

Copyright: Mascha Grieschat - Oktober 2014 | Ergänzungen Februar 2018 & 2019

Veröffentlicht in ausführlicher Version in "Gesundheit braucht Politik" (gbp.vdaeae, 3/2019, S.17-19)

 

Weitere Infos zur Bundestagspetition gegen Gewalt in der Geburtshilfe

Stand: 09.11.2023

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