"Laut aktuellen Erhebungen der EU erleben in Deutschland ca. 30% der Frauen verbale und physische Gewalt oder Vernachlässigung während der Geburt. 42,8% erleben Gewalt durch Eingriffe, denen sie nicht zugestimmt haben."1
so berichtet der Hebammenverband im Mai 2024 in seinem Factsheetund beruft sich auf die umfangreiche EU Studie von April 2024: Obstetric and gynaecological violence in the EU - Prevalence, legal frameworks and educational guidelines for prevention and elimination. Im Grunde werden in dieser Studie für Deutschland jedoch u.a. lediglich Ergebnisse bestehender nicht-repräsentativer Befragungen (siehe auch unten) zusammengefasst. Für Deutschland liegen trotz Bundestagspetition von 2018 mit eingehender Forderung nach Forschung nach wie vor keine gesicherten Ergebnisse von aussagekräftigen quantitativen Studien vor. Die Abweichungen der oben genannten Daten sprechen für sich: Es ist unmöglich, dass 'nur' 30% % der Frauen Gewalt erleben, wenn bereits 42,8 % Gewalt durch Eingriffe ohne Zustimmung erfahren.
Mascha Grieschat von der Initiative für gerechte Geburtshilfe schätzt nach wievor: "Je nach Definition der Gewalt ca. 50 % der Frauen in Deutschland von Gewalt im Kontext von Geburtshilfe betroffen." Die Definition dieser Gewaltform ist daher so entscheidend, da bestimmte Gewaltformen nicht nur gesellschaftlich akzeptiert werden, sondern teilweise auch von den Frauen selbst: Z.B. wird der Eingriff ohne Zustimmung der Frau oft als "Rettung" suggeriert ("Ohne den Kristellerhandgriff/den Kaiserschnitt/den Dammschnitt ... wären Sie/Ihr Baby gestorben"), obwohl echte Notfällle in der Geburtshilfe, in denen derart übergriffiges Verhalten 'notwendig' wäre, so gut wie nie vorkommen.
Daher gilt: Wenn geltendes Recht in Schwangerschaft, unter der Geburt oder im Wochenbett nicht eingehalten wird, ist es Gewalt und diese Zahlen sind - unanbhänig von der exakten Prozentzal - viel zu hoch. Dem muss aktiv entgegengewirkt werden, wie es auch die WHO seit 2014 fordert.
Übersicht zu bisherigen Erkenntnisse über die Zahlen in Deutschland:
Nach den nicht-repräsentativen Schätzungen zu Gewalt in der Geburtshilfe von STERN TV 2019 (Hebammen schlagen Alarm | stern TV) mit über 10.000 Teilnehmerinnen und den Ergebnissen einer ebenfalls nicht repräsentativen Studie von Prof. Limmer an 2045 Frauen zu Gewalt in der Geburtshilfe (dhz-online.de 2019) liegen nun erstmals für Deutschland repräsentative Zahlen vor. Die Ergebnisse der Studie der Psychologischen Hochschule Berlin sind laut Studienleiterin Lea Beck-Hiestermann „alarmierend“ (vgl. SPIEGEL). Über 1500 waren befragt worden.
Anlässlich des Roses Revolution Days (25. November) berichtet der SPIEGEL 2020 umfassend zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe und stellt erste Einblicke in eine Studie an 1500 Müttern vor. Die Zahlen bestätigen die bisherigen Schätzungen von 30%-50%. So liegt laut Studie allein der Anteil der Frauen, die physische Gewalt erfahren haben bei 38%! (DER SPIEGEL, 21.11.2020, S.45).
Seit 2023 ist diese Studie von Lea Beck-Hiestermann, Saskia Gries, Stephanie Mehl, Nikola Stenzel, Rainer Erices und Antje Gumz hier als Preprint online: Adverse Childbirth Experiences - Results of an Online Survey of Woman During Their First Year Postpartum | Research Square
Folgen
Häufig wird im Kontext der Folgen von Gewalt in der Geburtshilfe auch die Posttraumatische Belastungsstörung erwähnt - als Folge von körperlicher und psychischer Gewalt. Allerdings löst nicht jede Gewalt ein Trauma aus und umgekehrt ist für eine PTBS nicht zwingend Gewalt ursächlich. Auch der Verlust des Kindes oder ein schicksalshafter komplikationsreicher Geburtsverlauf können beispielsweise Auslöser sein. Allerdings ist davon auszugehen, dass der Anteil der Betroffenen in Deutschland ähnlich hoch ist, wie in anderen Studien gezeigt:
"Ein Drittel der Frauen erlebt die Geburt als traumatisch, folglich entwickeln 3-6% aller gebärenden Frauen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), wobei viele nicht diagnostiziert werden." (Identifying post-traumatic stress disorder after childbirth - Pauline Slade, The BMJ 2022) In Kurzfassung hier: Das Trauma im Kreißsaal (medical-tribune.de)
Wieviele PTBS-Erkrankungen exakt auf Gewalteinwirkung zurückzuführen sind, muss noch genauer untersucht werden.
Was tun?
An den alarmierenden Zahlen wird einmal mehr deutlich, dass die Bundesregierung auch in Deutschland in einer umfassenden Geburtshilfereform aktiv gegensteuern muss (vgl. Bundestagspetition von 2018). Es braucht einen Kulturwandel im Kontext von Schwangerschaft und Wochenbett - damit die WHO-Forderungen umgesetzt werden können, was Hilfe für Betroffene, Prävention sowie weitere Forschung miteinschließt.
Gewalt im Kontext von Gewalt in der Geburtshilfe - was ist das?
verbale Gewalt - Beispiele im "Bullshitbingo"