Die vollständige Genomsequenzierung (Whole Genome Sequencing, WGS) von Neugeborenen – wie sie innerhalb der nächsten Dekade flächendeckend in Großbritannien eingeführt werden soll – stellt einen
medizinisch ambitionierten und gesellschaftlich bedeutsamen Schritt dar. In Deutschland wird dieser Ansatz – aus Sicht der Initiative für gerechte Geburtshilfe zu Recht – zunächst wissenschaftlich
und ethisch diskutiert sowie im Rahmen von Studien zum genomischen Neugeborenenscreening (gNGS) evaluiert.
Wir begrüßen die differenzierte Stellungnahme der interdisziplinären Forschungsgruppe NEW_LIVES unter anderem der Universität Heidelbergi, in der auch Patient:innenvertretungen beteiligt waren.
Während in Großbritannien lediglich vier breit gefasste Kriterien zur Auswahl genetischer Erkrankungen gelten, wurde in Deutschland ein detailliertes System mit bis zu 18 Bewertungsmerkmalen
entwickelt. Dies zeugt von der notwendigen Sorgfalt bei der Konzeption solcher Programme.
Allerdings sollte die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen deutlich gestärkt werden, da es sich mit einem genomischen Gesundheitsprogramm um präventive Gesundheitsvorsorge gesunder
Mitglieder der Bevölkerung handelt – nicht in erster Linie um Behandlung von Patientinnen und Patienten.
Eine pauschale Genomsequenzierung (wie in GB) halten wir derzeit nicht für empfehlenswert.
Potenzial und offene Fragen: Klassisches Screening vs. genomisches Neugeborenscreening
Das aktuell praktizierte Neugeborenen-Screening (NGS)ii, umgangssprachlich als „Fersen-Piksen“ bekannt, ist ein sogenannten Reihenangebot, ein freiwilliges Angebot mit einer beachtlichen
Teilnahmequote von über 99 %. Das NGS arbeitet mittels biochemischer Analyse und dient der Früherkennung von 19 Krankheiten, darunter:
• 13 Stoffwechselerkrankungen (z. B. PKU, MCAD-Mangel)
• 2 Hormonstörungen (z. B. Hypothyreose)
• Mukoviszidose, SCID, SMA, Sichelzellkrankheit
Rund 1.000 Kinder erhalten dadurch jährlich eine frühzeitige Diagnose mit potenziell lebensrettender oder -verbessernder Wirkung. Ein genomisches Neugeborenenscreening (gNGS) könnte zusätzlich –
je nach Auswahl der zu untersuchenden Krankheiten – 3.250 bis 6.500 Kinder mit behandelbaren Befunden identifizieren. Diese Zahl ist beeindruckend, muss jedoch im Kontext der Auswahlkriterien und der
klinischen Relevanz der Befunde betrachtet werden.
Mit der Ausweitung genetischer Diagnostik steigen zugleich die Anforderungen an Transparenz, ethische Abwägung und psychosoziale Begleitung. So werden dabei hochsensible genetische Daten erhoben
und Details zur Umsetzung – medizinisch, ethisch und organisatorisch – sind noch offen.
Wir sehen daher grundlegenden Klärungsbedarf für folgende Fragen:
- Welchen konkreten medizinischen Nutzen hat ein flächendeckendes gNGS?
- Wie wird die transparente, wissenschaftlich begründete Auswahl der Zielerkrankungen tatsächlich erfolgen? (Lässt sich das Konzept der NEW_LIVES-Stellungnahme umsetzen?)
- Wie wird mit Befunden umgegangen, die keine unmittelbare therapeutische Konsequenz haben oder lediglich mehrdeutige Wahrscheinlichkeitsaussagen liefern?
- Wie lässt sich freiwillige und informierte Teilnahme durch Eltern sicherstellen – frei von Druck, vorgefassten Erwartungen oder sozialem Einfluss?
- Inwiefern wird der Ausweitung genomischer Screeningverfahren Rechnung getragen – insbesondere vor dem Hintergrund einer möglichen Verschiebung von postnataler Diagnostik hin zu flächendeckendem
pränatalem Screening?
- Ist eine adäquate medizinische und psychosoziale Versorgung gewährleistet angesichts des eklatanten Personalmangels in Pädiatrie und Pflege? Zentrale Prinzipien Das Angebot einer Auswertung und
Speicherung genetischer Daten eines Neugeborenen ab Geburt erfordert höchste Anforderungen an Datenschutz und ethische Begleitung.
Wir halten folgende Punkte für unverzichtbar:
- Abwägung zwischen dem Recht auf Nicht-Wissen (für Eltern und Kinder) und dem Anspruch auf bestmögliche Versorgung
- Belastungsfreie und verständliche Aufklärung, die echte Entscheidungsfreiheit ermöglicht
- Transparente und zweckgebundene Datenverarbeitung, besonders im Hinblick auf Bestre bungen, vollständige Rohdatensätze dauerhaft zu speichern und für Forschungszwecke zu nutzen Bereits etablierte
pränataldiagnostische Verfahren zeigen, wie ethisch herausfordernd unklare Befunde (auch falsch-positiv-Raten) oder prognostische Wahrscheinlichkeiten sein können.
- Genomische Diagnostik darf nicht zu unnötiger Verunsicherung oder moralischem Entscheidungsdruck führen, der Schwanger schaft und Bindungsentwicklung sowie das gesamte Familienleben
belastet.
Freiwilligkeit, informierte Zustimmung und psychosoziale Begleitung sind grundlegende Voraussetzungen.
Kritik und Ergänzungsbedarf
Bei aller Wertschätzung für die Stellungnahme von NEW_LIVES sehen wir weiterhin substantiellen Ergänzungsbedarf bei einem Dokument solcher Tragweite. Unsere Kritik bezieht sich insbesondere auf
die elterliche Perspektive – denn sie ist zentral für die gesellschaftliche Akzeptanz und Umsetzung eines solchen Programms. Zwar wurden Eltern in Erhebungen befragt, doch unabhängige Elternverbände
und zivilgesellschaftliche Vertretungen blieben unberücksichtigt. Die Beteiligung betroffener Familien – etwa aus Selbsthilfevereinen – ist wichtig, spiegelt jedoch nicht das gesamte Spektrum
elterlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Perspektiven wider. Stichprobenbasierte Befragungen oder Online-Elternstudien können diese Lücke nicht schließen – insbe sondere dann nicht, wenn die
Teilnehmenden direkt über Patient:innenorganisationen rekrutiert wurden. Die Zusammensetzung der verwendeten Stichproben legt nahe, dass vorwiegend vorinformierte und aufgeschlossene Eltern vertreten
waren – was die Generalisierbarkeit der Ergebnisse stark einschränkt. In der Stellungnahme selbst wird eingeräumt, dass es sich um eine „besondere Stichprobe“ handeln könne – ein Aspekt, der
ausdrücklich als relevant zu berücksichtigen genannt wird (S. 29). Eine strukturierte, transparente Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure ist notwendig, um kollektive Erfahrungen und gesell
schaftliche Perspektiven systematisch einzubeziehen. Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die Erhebung und Auswertung erweiterter personenbezogener Merk male in den durchgeführten Studien. Zwar
handelt es sich um freiwillige Angaben, doch die Erfassung von Religion, politischer Haltung oder Bildungsstand wirft im Zusammenhang zum gNGS Fragen auf: Welchem Erkenntnisinteresse dienen diese
Daten, wenn sie nicht quantitativ, sondern ausschließlich qualitativ ausgewertet werden? Eine nachvollziehbare ethische und methodische Begründung liegt bislang nicht vor. Wir halten dies für
problematisch.
Fazit
Die Initiative Gerechte Geburt plädiert für eine verantwortungsvolle Einführung neuer genetischer Ver fahren, die den medizinischen Versorgungsbedarf ins Zentrum stellt – nicht maximale
Diagnosetiefe ohne klinischen Mehrwert. Viele genetische Auffälligkeiten sind nicht behandlungsbedürftig, bleiben asympto matisch oder zeigen sich erst später im Leben. Ein sinnvolles Screening muss
zwischen relevanter Früh behandelbarkeit und Befunden ohne therapeutische Konsequenz unterscheiden.
- Wir begrüßen medizinischen Fortschritt – wenn er den Familien dient, nicht sie überfordert. Die Einführung von gNGS muss auf fundierter Risiko-Nutzen-Abwägung beruhen, transparente Kriterien
anwenden und gesellschaftlich breit abgestützt sein.
- Selbstbestimmung, Datenschutz und psychosoziale Begleitung sind dabei ebenso zentral wie medizinische Qualität.
- Wir regen die Einrichtung eines unabhängigen Ethikbeirats mit zivilgesellschaftlicher Beteiligung an, um zukünftige Screeningprogramme verantwortungsvoll zu begleiten.
Doch verantwortungsvolle Gesundheitsversorgung endet nicht bei der Genomdiagnostik. Sie beginnt dort, wo die Lebensrealität von Familien systematisch ausgeblendet wird.
Gesellschaftlicher Rahmen
Die Erfahrungen aus etablierten genetischen Früherkennungsuntersuchungen und dem „klassischen Neugeborenenscreening“ zeigen: Solche Verfahren müssen sensibel für psychosoziale Folgen gestaltet
werden. Hier darf ein anderes zentrales Thema nicht aus dem Blick geraten:
Gewaltstrukturen in der Geburtshilfe.
Laut aktueller Zahlen ist jede dritte Geburt traumatisch, bis zu 50 % der Frauen erfahren Gewalt im geburtshilflichen Kontext – jährlich betroffen sind über 300.000 Mutter-Kind-Paare in
Deutschland. Posttraumatische Belastungsstörungen, Bindungsstörungen und unfreiwillige Familienplanung sind weit verbreitete, aber systematisch vernachlässigte Folgen.
Die aktuelle Pressemitteilung der Initiative Gerechte Geburt zeigt deutlich: Eine gerechte Prioritäten setzung in der geburtshilflichen Gesundheitsversorgung ist überfällig. Anerkennung,
Prävention, gezielte Unterstützung sowie tiefgreifende strukturelle Maßnahmen können die körperliche und psychische Gesundheit von Mutter und Kind nachhaltig stärken.
Stellungnahme in der Presse:
Für diese Presseanfrage hatten wir gezielt auf die uns zugestellten Fragen geantwortet, da im Artikel natürlich nur sehr kleine Ausschnitte wiedergegeben werden, hier die vollständige Version
unserer Antwort: